Von „Wissensbulimie“ und „Kompetenz-Fast-Food“

Manchmal komme ich aus dem Kopfschütten einfach nicht mehr heraus. Im Privaten haben wir uns ja schon an Heilsversprechen gewöhnt, wenn es darum geht, wie man in nur wenigen Tagen oder Wochen sein Gewicht um 30% dauerhaft und ohne Anstrengung reduzieren kann oder für immer und ewig ein glücklicher Mensch wird.  Einige derer, die sich auf so etwas einlassen glauben fest daran, dass dies funktioniert, andere wollen einfach nur mal wieder eine andere Methode ausprobieren, um sich danach zu beweisen, dass es eben doch nicht funktioniert.

In letzter Zeit häufen sich aber auch im Business-Bereich die Angebote, die einem „Verkaufen ohne Einwände“, „100 Prozent Abschlussquote“, „Automatisch neue Kunden“ und „Immer-motivierte-Mitarbeiter“ versprechen. In kürzester Zeit. Auch ganz einfach und ohne Anstrengung. Was passiert eigentlich mit dem ganzen Wissen, das heute in Form von Seminaren, Trainings, Videos, Podcasts, Büchern und so weiter konsumiert wird? Und viele, die ich kenne, sprechen wirklich vom Konsumieren.

Wissen alleine bringt leider gar nichts, außer man hat es nur aufgenommen, um es danach wieder „auszukotzen“. Daher auch die Bezeichnung „Wissensbulimie“. Klassisches Prüfungswissen eben. Man lernt es auswendig, um es zu einem bestimmten Zeitpunkt wieder parat zu haben und es dann heraus zu lassen. Dazu bedarf es keiner praktischen Anwendungskompetenz, es zählt eben nur, dass man (und Frau) es weiß. Führungskräfte und Personaler gehen aber in der Regel davon aus, dass die Mitarbeiter es danach auch können und anwenden – und nicht nur wissen.

Vor den Feiertagen führte ich ein Praxiscoaching durch und im Seminarraum nebenan hielt ein Kollege ein Präsentationstraining. Die Teilnehmer erhielten ein ausführliches Handout und arbeiteten sich an einem Tag durch über 15 verschiedene Themen. Bei einer Netto-Seminarzeit von geschätzten 400 Minuten sind das 26 Minuten pro Thema. Von der Gestaltung einer Präsentation, über Aufbau und Inhalt, die Körpersprache, verbale Sprache, bis hin zu Fragetechniken und dem Umgang mit  Konfliktsituationen. Mehr als Fast-Food-Charakter hatte das wohl nicht. Leider.  Es muss wohl seinen Sinn haben, dass in der Grundschule mehrere Wochen mit dem Addieren und Subtrahieren der Einer-Reihen verbracht wird. Die meisten Eltern würden auf die Barrikaden gehen, wenn auf dem Lehrplan der ersten drei Wochen alle verschiedenen Grundrechenarten bis 100 aufgeführt wären. Mit Recht. Ist das bei Erwachsenen anders? Was machen diese armen Teilnehmer denn mit dem ganzen Wissen? Was passiert mit dem 30seitigen Handout und wo fangen Sie mit der Umsetzung an? Und wer gibt Feedback?

Wer von uns hat seinem Kind das Fahrradfahren beigebracht, in dem er oder sie dem Kind  das „Handbuch des erfolgreichen Fahrradfahrers“vorgelesen hat?

Warum gehen Menschen (Verantwortliche wie Teilnehmer) davon aus, dass sie mit der Wissensaufnahme auch schon etwas gelernt haben? Wahrscheinlich auch deshalb müssen dieselben Teilnehmer dann sechs Monate später wieder in ein „Auffrischungsseminar“. Nicht, weil sie es wieder VER-lernt haben – nein, weil sie es wahrscheinlich nie richtig GE-lernt haben. Ein Schelm, der denkt, dass Trainingsanbieter dies schon von vornherein mit einplanen. Wenn mich ein Kunde bei der Auftragserteilung fragt, wann wir ein „Fresh-up“ machen, dann sage ich ihm, dass ich das nicht weiß und wir erst einmal alles daran setzen sollten, dass wir kein „Fresh-up“ brauchen und kommende Veranstaltungen  bestenfalls mit Themen gestalten, die auf das aufbauen, was bis dahin schon umgesetzt ist.

Die entscheidende Frage lautet: Brauche ich das Wissen, um es nur zu wissen oder um es anzuwenden?

Wenn ich es nur wissen muss (und dazu muss ich es noch nicht einmal zwingend verstehen), dann ist es „wurscht“, ob ich es mir mit E-Learning reinpfeife, lese, höre oder in einem Seminar vermittelt bekomme. Ganz nach eigenem Gusto. Der Sinn und Zweck von Trainingsveranstaltungen liegt aber heute überwiegend  in der Fähigkeit, dieses Wissen auch anzuwenden. Mehr noch!  Es bewusst UND  überlegt anzuwenden. Und dazu braucht es meist andere Konzepte, als die, die zur reinen „Bedampfung“, „Bespaßung“ oder eben der reinen Wissensvermittlung angebracht sind. Gute Weiterbildung ist ein hohes Gut.  Fastfood ist nicht per se ungesund, allerdings auch nicht geeignet, um sich dauerhaft wirklich gesund und ausgewogen zu ernähren. Ja,  zwischendurch macht es auch einfach mal Spaß. Was wir aber heute – besonders bei Weiterbildungsthemen, welche Kommunikation und Führung betreffen –  nicht brauchen und unterstützen dürfen, sind Alibi-Veranstaltungen und Konzepte, die offensichtlich nicht geeignet sind, um Lern- und Kompetenzziele zu erreichen.  Auch nicht, wenn diese günstig oder billig ist. Im Sinne aller Beteiligten. Der Auftraggeber, der Trainer und der wichtigsten Menschen, die am Ende in der Verantwortung stehen: Der Teilnehmer. Darum werden Themen wie Lern-Transfer, Umsetzungsbegleitung und Feedback in Zukunft immer wichtiger. Wir brauchen effektive Weiterbildung, welche die Ressourcen nicht unnötig belastet und schnell wirksam wird. „Hands-on-Weiterbildung“, die uns Schritt für Schritt weiterbringt. Aber auch jeden Schritt festigt.

Und jeder, der gegen Bezahlung sein Wissen vermittelt, sollte von sich aus oder zumindest auf Nachfrage geeignete Antworten auf die folgende Frage finden: „Wie tragen sie direkt dazu bei und welchen Prozess empfehlen sie uns, dass die Teilnehmer das vermittelte Wissen auch wirklich verstehen, verinnerlichen und anwenden können?“